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Entwicklung der Geige

Anmerkung: Der nachfolgende Artikel wurde als Festvortrag anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Verbandes Deutscher Geigenbauer (VDG) auf dessen Jahreshauptversammlung am 22.Mai 2004 in Wiesbaden gehalten.

Zeitgeist und Geigenbau

Meilensteine aus Kunst und Wissenschaft - eine kleine Zeitreise

Mit Blick auf die großen italienischen Meister der Geigenbaukunst des 18. Jahrhunderts herrscht heute die Ansicht vor, jene berühmten Vorbilder hätten ihre epochemachenden Werke „aus dem Bauch heraus“ geschaffen. Moderne Wissenschaft habe es noch nicht gegeben, daher sei die Entwicklung der Geige eine rein ‚intuitive’ Angelegenheit gewesen. Diese - möglicherweise auch hier mehrheitlich kultivierte - Anschauung möchte ich im Folgenden in Frage stellen, indem ich versuche, einen kleinen Abriß zum Thema Wissenschaft und Forschung im Bereich des Geigenbaues zu skizzieren.

Begnadete Empiriker

Wer die Geschichte der Kunst und die der Wissenschaft gleichzeitig liest, der kommt mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Geige zur Überzeugung: Die berühmten Großmeister des Geigenbaues können sich unmöglich in ihrer Kunst eingeschlossen haben. Sie haben sich nicht - fernab vernünftiger Überlegungen in ihr geheimnisvolles Werkstattkämmerlein - „eingeschlossen“. Vielmehr waren sie hochgradig aufgeschlossen, offen für Methoden, Überlegungen und Entdeckungen von Wissenschaft und Künsten ihrer Zeit – Architektur, Naturwissenschaft, Komposition und Malerei. Der Klangkörper Geige als ein – wie wir heute erkennen - hochgradig optimiertes akustisches System kann nur in einem Milieu begnadeter Empirie entstanden sein. Hier waren großartige Empiriker am Werk, in deren Selbstverständnis das Spannungsfeld aus Kunst und Wissenschaft niemals einen inneren Widerspruch hätte darstellten können.

Die großen Meister der Geigenbaukunst waren nicht nur Künstler. Sie waren zweifelsohne auch empirische Wissenschaftler. Denn ganz offenkundig waren sie in der Lage, aus „Versuch und Irrtum“ die richtigen Lehren zu ziehen. Dieser „empirischen Kunst“ verdankt die Geige ihre Entwicklung. Sie entwickelte sich nicht in einem Milieu spontaner Willkür, sondern ganzheitlicher Intuition - zwei Begriffe, die bisweilen undifferenziert verwendet werden. Intuition wird häufig mit Willkür gleichgesetzt. Während jedoch willkürliches Arbeiten nicht zwischen richtig und falsch zu unterscheiden weiß, läßt sich das intuitive Arbeiten stets von einem inneren Erfahrungsreichtum leiten. Aus unermüdlichen Versuchen und notwendigen Fehlschlägen wurden die richtigen Lehren gezogen.

Das Zeitalter der Wissenschaft

Die Geige entstand in einer Epoche „wissenschaftlicher Revolutionen“, die die Erfahrungswelt der ersten Geigenbauer tief geprägt haben muß:

  • In den Kindheitsjahren Andrea Amatis ereignet sich im Bewusstsein der Menschheit ein „geistiges Erdbeben“. Kopernikus: Die Erde dreht sich mit den anderen Planeten um die Sonne (1512). Was bislang gültig war, wird schwer erschüttert. Das Zeitalter der Wissenschaft bricht auf.
  • Nicolo Amati ist noch nicht geboren, da begründet Johannes Kepler (1571 – 1630) die theoretische Astronomie. „Harmonices mundi“ - die „Weltharmonie“ mit dem dritten Keplerschen Gesetz der Planetenbewegung.
  • Sein Zeitgenosse, der Italiener Galileo Galilei (1564 – 1642), begründet die moderne Experimentalphysik. Im Jahr 1589 – sieben Jahre später wird Nicolo Amati geboren werden - erhält Galilei einen Lehrstuhl für Mathematik in Pisa. Berühmt geworden ist seine „Goldene Regel der Mechanik“ mit dem mechanischen Energieerhaltungssatz (1594).
  • Wir haben nicht einmal das Geburtsjahr Stradivaris erreicht, als im Jahre 1640 der französische Priester Mersenne die Schallgeschwindigkeit in Luft bestimmt. (Er tut dies durch einen Zeitvergleich zwischen dem Blitz und dem Knall einer Kanone. Ein ähnliches Experiment gelang Bacon bereits im Jahr 1600).

    Unzählige große Wissenschaftler jener Zeit wären zu nennen, die uns etwas vom Pioniergeist des Wissenschaftszeitalters erahnen lassen – jenes Zeitalter, in dem die Entwicklung der Geige ihre Wurzeln hat. Einige weitere Beispiele:
  • Dass Santorio (1561 – 1636) den modernen Feuchtigkeitsmesser erfindet, gibt uns guten Grund zur Annahme, dass dem Geigenbau eine differenzierte Kenntnis über Größen wie Holzfeuchtigkeit alltäglich war und er sich mit Fragen nach günstigen und ungünstigen Materialeigenschaften auseinander zu setzen in der Lage war.
  • Vergegenwärtigen wir uns, dass Isaac Newton im Jahr 1672 - Stradivari ist Mitte Zwanzig - das Sonnenlicht mit einem Prisma in die Spektralfarben zerlegt, dann kann man sich leicht vorstellen, dass Begriffe wie „Klangfarbe“ durchaus alltäglicher Sprachgebrauch der damaligen Welt des Geigenbaues waren. Es war klar: Farben haben naturwissenschaftliche Ursachen…
  • Mit dem Paradigmenwechsel des neuen Weltbildes Anfang des 16. Jahrhunderts beginnt die Entwicklung der Wissenschaft förmlich zu explodieren. So wird im Jahr 1662 die Royal Society („Königlich Wissenschaftliche Gesellschaft“) in England und vier Jahre später die Pariser Akademie der Wissenschaften gegründet

Beeinflusst durch Musik und Mathematik

Ihre wesentlichen Impulse erhielt die Geige m.E. durch die Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft und Kunst ihrer Zeit. Einige interessante Wechselwirkungen zwischen Entwicklungsschüben der Geige auf der einen und Meilensteinen der Musikgeschichte auf der anderen Seite sind offenkundig:

  • Claudio Monteverdi war der Erste, der die vierte Lage (e3 Marienvesper, 1610) verlangte und damit der Geige ein höheres Maß an spieltechnischer Virtuosität abverlangte als andere Komponisten seiner Zeit. Monteverdis Heimatstadt war Cremona. Sicher darf man davon ausgehen, daß Monteverdis spieltechnische Forderungen angesichts der örtlichen Nähe zur Amati-Dynastie sehr unmittelbar eine spieltechnische Weiterentwicklung ihrer Instrumente angespornt haben wird.
  • Arcangelo Corelli schuf mit seinen 12 Violinsonaten (Sonata a violine e violine o cimbalo) im Jahr 1700 ein Standardwerk der Violinliteratur, das bis ins 19. Jahrhundert hinein zum Grundstudium jeden Geigers gehörte. Noch wichtiger könnte das Jahr 1680 sein: Erstmals in der Musikgeschichte entsteht durch Corelli ein ‚concerto grosso‘. Damit hebt sich die Geige aus dem Orchester heraus und wird (freilich vorerst nur phasenweise) zum Soloinstrument. Dies muss nicht nur für den jungen Stradivari eine musikalische Revolution gewesen sein. Er begann, sich konsequent von Wölbung und Modell seines Vorbildes oder Lehrmeisters Nicolo Amati zu lösen und entwickelte sein „langes Modell“. So stellte er sich der neuartigen musikalischen Herausforderung.
  • Noch stärker muß Torelli im Jahr 1698 die Innovationskraft Stradivaris angestachelt haben. In diesem Jahr begründet Torelli das virtuose Violinkonzert! Stradivari reagiert auf diese revolutionäre Entwicklung durch ein neues Modell. Es beginnt das, was spätere Generationen seine „goldene Periode“ nennen werden.
  • Auch die Entwicklung des modernen Streichbogens (durch Francois Xavier Tourte, Paris 1747 - 1835) wäre ohne die neue Violinschule eines Leopold Mozarts oder Josef Haydns sicher nie „erlitten“ worden. Wie zuvor die Konzertsituation neue Instrumente verlangt hatte, so war es nun die Spieltechnik, die neue Bögen verlangte.

Die Blütezeit des italienischen Geigenbaues wäre ohne das unmittelbare Reagieren auf  musikalische Entwicklungen nicht denkbar gewesen. Es bestand eine lebendige Wechselwirkung zwischen der geforderten Virtuosität der Komposition und der ständigen, kreativen Offenheit und Entwicklungsbereitschaft der damaligen Geigenbaukunst.

Kunst und Geometrie

Aber auch Anstöße durch Mathematik und Architektur haben ihre Spuren im Geigenbau hinterlassen:
Eine der Renaissance-Architektur in Wölbungen, Bögen und Kuppeln häufig zugrunde liegende Kurvenform ist die sog. Zykloide. Eine Zykloide entsteht, wenn ein Punkt auf dem Umfang eines Kreises auf einer Geraden abrollt. Liegt dieser Punkt im Innern des Kreises, dann entsteht eine Zykloide „mit Hohlkehle“. In jüngster Zeit wies Quentin Playfair [Cremona’s Forgotten Curve, Zeitschrift The Strad, November 1999] auf die beeindruckende Übereinstimmung klassischer italienischer Geigen-Wölbungsprofile mit Zykloidenkurven hin.

Auch meine eigenen Wölbungsmessungen an typischen Cremoneser und Venetianer Instrumenten zeigen, dass durch die Wahl des Einstichpunktes und Raddurchmessers nicht nur jede der fünf Querquintas gezeichnet, sondern auch der grundsätzliche Wölbungscharakter festgelegt werden kann. So liegt typischer Weise bei Amati das Zykloiden-Minimum innerhalb des Geigenumrisses, bei Stradivari i.d.R. im Bereich der Außenumrisslinie und schließlich bei Guarneri ‚del Gesu‘ außerhalb der Umrisslinie.

Die Konstruktionen und Zeichnungen von Bögen und Wölbungen mithilfe der Zykloide erfreuten sich aufgrund ihrer „harmonischen“ Ästhetik in der Renaissance-Architektur großer Beliebtheit. Wenngleich die Form der Zykloide bereits den alten Griechen bekannt war, fehlte ihnen noch die Mathematik, sie exakt zu beschreiben. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Geometrie war in der Renaissance eine Selbstverständlichkeit.

  • So setzt sich etwa Albrecht Dürer (1471-1528) in seinen drei veröffentlichten Abhandlungen über Geometrie, Befestigungskunst und menschliche Proportionen auch mit den theoretischen Grundlagen seiner Kunst auseinander. In seinen Büchern gibt er detaillierte Erläuterungen über geometrische Grundprinzipien und Kurvenkonstruktionen und zeigt, wie diese dem Künstler und Handwerker dienlich sein können. In der darstellenden Geometrie ist er bis an die Grenzen der damals bekannten Mathematik vorgestoßen und hat bedeutende Impulse für die Arbeiten Galileis und Keplers geliefert.
  • Die Brücke Ponte di Mezzo in Florenz geht auf Zykloiden-Berechnungen Galileis (1564-1642) zurück. Neben Galilei befassen sich im 17. Jahrhundert eine große Zahl berühmter Mathematiker, darunter Pascal (1623-62), Leibniz (1646-1716) und Newton (1643-1727) intensiv mit der Mathematik der Zycloide und ihrer physikalischen Anwendungen.

Von Albrecht Dürer bis Issac Newton (der Zeit also vor Andrea Amati bis Antonio Stradivari) gehörte die Zykloide zum Grundwissen eines jeden gebildeten Menschen. Es ist nicht denkbar, dass die Geigenbauer dieser Zeit borniert oder isoliert an wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen vorbei gearbeitet haben.

Die Wölbung der Geige ist eines ihrer wesentlichen klangformenden Elemente. Am Beispiel der Zykloide wird m.E. deutlich, dass die Geige in ihrer großen Entwicklungs- und Blütezeit alles andere als „aus dem Bauch heraus“ gefertigt wurde. Ihre Entwickler beherrschten die geometrischen Grundregeln und Konstruktionsmethoden ihrer Zeit und wendeten sie konsequent an. Sie waren beeinflußt von den Entdeckungen der Mathematik und Physik, Anwendungen der Architektur, der Kunst- und Musikentwicklung.

Die Folgezeit - Das 19. Jahrhundert

Es scheint mir, als entwickelten sich Geigenbau und Wissenschaft in der Folgezeit eher auseinander. Im Geigenbau tritt im Zuge der „industriellen Revolution“ an die Stelle einer kreativen Auseinandersetzung mit Impulsen aus Kunst und Wissenschaft mehr und mehr das Bestreben, bewährte Modelle durch rationellere Produktionsmethoden zu kopieren. Im Bereich der Akustik könnte man das 19. Jahrhundert als eine Epoche der Grundlagenentdeckungen bezeichnen. Unter den „Vätern der Akustik“ sind sicher Chladni, Fourier und Helmholtz zu nennen.

Quelle: http://www.av-medien.net/index.html?c~4

  • Ernst Florens Friedrich Chladni (1756-1827) veröffentlichte im Jahre 1787 seine Forschungsergebnisse in der Schrift "Entdeckungen über die Theorie des Klanges". Er machte durch Anstreichen mit einem Geigenbogen die Eigenschwingungsformen frei gelagerter Platten sichtbar. Wie die Skizze zeigt, wurden die Platten mit Sand bestreut, der (bei Wahl der jeweils geeigneten Lagerung und Anstreichstelle) durch die erzeugten Vibrationen von den Schwingungsbäuchen zu den Knotenlinien wandert.

Quelle: www.uni-erfurt.de/ kommunikationswissenschaft

Im 20. Jahrhundert wurde diese Methode (mithilfe eines elektronischen Funktionsgenerators) vielfach im Bereich des Geigenbaues beim sogenannten free-plate-tuning angewandt. Die nebenstehende Abbildung zeigt die damit sichtbar gemachten Schwingungsform eines Geigenbodens.

 
 

  • J.B. Fourier zeigte 1822 in seiner ,,Théorie analytique de la chaleur``, daß sich ein Vorgang beliebiger Form, der sich nach einer Periode T wiederholt (z.B. die Schwingung einer gestrichenen Geigensaite) vollständig aus einzelnen harmonischen Frequenzkomponenten aufbauen läßt. Die Grund- und Oberschwingungen nennt man Fourierkomponenten.
    Auf ihn geht die sog. Fouriertransformation zurück - ein Algorithmus, anhand dessen Signale vom Zeitbereich in den Frequenzbereich transformiert werden können. Die Fourriertransformation läßt sämtliche Frequenzkomponenten sichtbar werden, aus denen zeitliche Vorgänge bestehen. Durch den Einsatz des Computers erhielt in den 1970er Jahren der 150 Jahre zuvor von Fourier entwickelte Algorithmus erstmals „flächendeckende“ Anwendung. Die sog. Fast Fourier Transformation (FFT) ist heute vermutlich die am häufigsten angewandte Methode der Ingenieurswissenschaften. Auch die computerbasierte Modalanalyse, durch die das Schwingungsverhalten von Strukturen sichtbar gemacht werden kann, basiert auf Fouriers Grundlagenwerk aus dem Jahre 1822.
  • Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821-1894) veröffentlicht 1865 das berühmt gewordene Werk „Lehre von der Tonempfindung“. Es markiert einen Meilenstein in der Erkenntnis der Akustik des Gehörs. Ihm gelingt es mithilfe unterschiedlich großer Glaskugeln (s. Abb. oben), deren eine Öffnung in den Gehörgang des Ohres gesteckt wird, eine erste Form der Spektralanalyse des Schalles vorzunehmen. Der Luftresonanz-Mechanismus, der bei seinen Experimenten zum Tragen kommt, wird nach ihm als „Helmholtzresonanz“ bezeichnet. Auch die Geige weist durch ihre ff-Löcher eine Helmholtzresonanz auf, die für die Abstrahlung des tieffrequenten Grundtonbereiches verantwortlich ist.
    Nach Helmholtz ist auch der sägezahnförmige Schwingungsverlauf der gestrichenen Saite benannt.
  • Lord Rayleigh's Buch „Theory of Sound“ (1877) wird Standardwerk zum aktuellen akustischen Wissen. Es enthält wesentliche Beiträge zur Berechnung schwingender Strukturen, behandelt das Thema Abstrahlung, Beugung und Streuung von Schall.

Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Im Jahr 1907 erfindet Lee de Forest die Verstärkerröhre. Die damit verbundene Möglichkeit, Klang aufzuzeichnen, zu konservieren und später wiederzugeben, wie auch die Analysemethoden der elektronischen Meßtechnik, eröffnen der Akustik neue Horizonte.
Es entsteht das Forschungsgebiet der sog. Psychoakustik, die den Zusammenhang zwischen den physikalischen Eigenschaften eines Schallsignals und den daraus resultierenden Hörempfindungen untersucht – der Zusammenhang also zwischen physikalischen Reizgrößen und psychischen Empfindungsgrößen.
Im Bereich der Instrumentenakustik werden zahlreiche Grundlagenwerke verfasst, die Aufschluß über die akustische Funktion der Instrumente geben. Darunter das Standardwerk „Die Physik der Geige“ [Stuttgart 1981] von L.Cremer, oder die umfassenden Lehrbücher „The Physics of Musical Instruments“ von N.H.Fletcher und T.D.Rossing [New York 1991] und „Fundamentals of Musical Acoustics“ von Arthur H.Benade [New York 1976].

Vor allem der Catgut Acoustical Society, die über Jahrzehnte hinweg stark vom Engagement Carleen M. Hutchins lebte, ist es zu verdanken, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine kleine, internationale „Gemeinde“ aus ambitionierten Akustikforschern, Instrumentenbauern und Geigenliebhabern zusammengefunden hat, die auf regelmäßigen Internationalen Symposien für Musikalische Akustik (ISMA) Forschungsergebnisse austauscht. Es würde den Rahmen dieser Skizzen sprengen, all die Ergebnisse im Bereich der Geigenakustik des 20. Jahrhundert darstellen zu wollen. Hier sei v.a. auf das halbjährlich erscheinende Journal der Catgut Acoustical Society verwiesen und auf die beiden Buchbände „Reserach Papers in Violin Acoustics 1975-1993“ [Acoustical Society of America, 1997]. Dort sind in über 120 Artikeln Forschungsergebnisse zu Themen wie Schallabstrahlung, gestrichene Saite, Steg, Stimmstock, Plattenschwingungen, Luftresonanzen, Holz, Lack und Psychoakustik dargestellt.

Erwähnenswert sind sicher die praxisbetonten Arbeiten von:

  • Eric Jansson („Department of Speech, Music and Hearing“ KTH Stockholm)
  • Helmut A. Müller (Müller-BBM), der 1983 erstmals die akustische Funktion der Geige mithilfe der Modalanalyse darstellte
  • Jim Woodhouse (Universität Cambridge, UK), der u.a. EDAX-Analysen von Grundierungen und Holzanalysen an altitalienischen Geigen mithilfe der Rasterelektronen-Mikroskopie durchführte

Mit Blick auf das heutige „Klima“ im Geigenbau erscheint mir bemerkenswert, dass die Kluft zwischen universitärer Forschung und praktischem Instrumentenbau kleiner zu werden scheint. Mehr und mehr Geigenbauer öffnen sich den Analysemethoden der Akustik und nehmen Forschungsergebnisse aufgeschlossen zur Kenntnis. Die zunehmende Nähe zwischen Akustikforschung und Geigenbau zeigt sich aktuell etwa an der Fusion der Catgut Acoustical Society mit der Violin Society of America.
Auch die jährlich stattfindenen Oberlin-Workshops in den USA, bei denen Fragestellungen der Akustikforschung, der Klangeinstellung und der Werkstattmethoden einen gleichberechtigten Platz finden, dokumentieren, dass der Geigenbau sich  aus einem abgeschlossenen „Werkstatt-Kämmerlein-Milieu“ zu befreien beginnt.

Visionen und Entwicklungen

Ich vermute, dass die Geigenbauwerkstatt der Zukunft sehr viel selbstverständlicher als bisher akustische Laborarbeit in ihr tägliches Arbeiten integrieren wird. Es werden neuartige Messgeräte als „Diagnosewerkzeuge“ im Umgang mit Materialeigenschaften und Klangfragen zum Einsatz kommen.
Neu entwickelte Streichinstrumente der Zukunft werden den akustischen Herausforderungen der heutigen großer Säle besser gewachsen sein als bisherige Instrumente. Durch die Entdeckung des akustischen Potentials der Kohlefaser und einer konsequenten Kombination mit den attraktiven Eigenschaften des Holzes werden Instrumente mit einer größeren dynamischen Bandbreite und Modulierbarkeit entstehen als dies je der Fall war. (Mit dem Material Holz wurde „das Ende der Fahnenstange“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits erreicht. Die Materialeigenschaften der Spitzeninstrumente Stradivaris können wir mit reinem Holz nicht übertreffen). Aber würde Stradivari in seiner Innovationskraft heute leben, hätte er längst die faszinierenden akustischen Eigenschaften von Kohlefaserverbund entdeckt und würde in eine neue Blütezeit des Geigenbaues vordringen.

Schluss

Diese Skizzen sollen ausreichen, uns zu vergegenwärtigen, in welch innovativem Milieu die Geige entstehen und sich entwickeln konnte. Je tiefer man das akustische System der Geige kennen lernt, desto mehr wird man staunen über die Intelligenz dieses Systems und man wird sich fragen, wie es zu dieser Intelligenz kam. Ich bin überzeugt, die genannten Wechselwirkungen spielten dabei eine wesentliche Rolle. Vielleicht können sie eine Ermutigung sein, gerade angesichts unseres Jubiläums, konstruktiv nach der Kreativität und Offenheit unseres Verbandes zu fragen.
Ein wesentliches Merkmal von Intelligenz ist Offenheit, d.h. die Fähigkeit, Neues aufzunehmen und in das eigene Werden und Schaffen einzubeziehen. Intelligente, entwicklungsfähige Systeme kommunizieren mit ihrer Umwelt, treten in Wechselwirkungen, um sie kreativ für die eigene Entwicklung nutzbar zu machen.
Wenn wir heute das hundertjährige Jubiläum des Verbandes Deutscher Geigenbauer (VDG) feiern, dann könnte dies auch Anlass sein, uns zu fragen, wie nachfolgende Generationen in 100 Jahren wohl über uns heute denken werden, ob sie uns als borniert oder kreativ, als abgeschottet oder offen, als eingeschlafen oder innovativ empfinden werden.
Wo treten wir heute in Wechselwirkungen mit Entwicklungen links und rechts unseres Blickfeldes? Wo suchen wir jenes kreative Spannungsfeld aus Kunst und Wissenschaft? Wo werben wir heute im VDG als neue Mitglieder passionierte Laien, die freilich mit Blick auf die Geigenbaupraxis Anfänger, zugleich aber Spitzenvertreter ihres Faches sein können: Architekten, Physiker, Komponisten, Historiker, Bildhauer, Musiker, Hirnforscher?

Ein attraktiver Geigenbauverband wird gewiss einer sein, von dem Impulse ausgehen; ein Verband, in dem Wechselwirkungen mit Vertretern und Entwicklungen aus Musik, Kunst und Wissenschaft stattfinden; ein Verband in dem die Spannung lebendig gehalten wird zwischen Tradition und Innovation, zwischen Kontinuität und Erneuerung.

Gabriel Weinreich, einer der großen Akustiker unserer Zeit, Professor für Physik an der University of Michigan stellte an das Ende seines Festvortrags Musical Acoustics in the Twentieth Century angesichts des 75-jährigen Bestehens der Acoustical Society of America ein Wort, dem ich mich uneingeschränkt anschließen möchte: „Letztlich aber wohnt der Erforschung der Musikinstrumente ein ganz besonderer Reiz inne. Denn über Jahrhunderte (wenn nicht gelegentlich sogar Jahrtausende) hinweg wurde durch „trial and error“ eine derart beeindruckende Genialität im Bau jener Instrumente erreicht. Es hat etwas Erfüllendes, dem geheimnisvollen, einzigartigen Charakter von Musikinstrumenten einen kleinen Baustein logischen Verständnisses zur Seite zu stellen und gerade dadurch ehrfürchtig zu erkennen, welche Werke der Mensch über Epochen hinweg zu entwickeln in der Lage war - durch Intuition, Geduld und die Gnade Gottes“.

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